Martin Niemöller und seine internationale Rezeption

Martin Niemöller und seine internationale Rezeption

Organisatoren
Lukas Bormann, Philipps-Universität Marburg; Michael Heymel, Limburg; Eberhard Pausch, Evangelische Akademie Frankfurt am Main
Ort
digital und Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.04.2021 - 28.04.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Moritz Groos, Philipps-Universität Marburg

Ziel der von der Fritz-Thyssen-Stiftung und der Kulturstiftung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) geförderten Tagung war eine historische und theologische Neubewertung des Wirkens von Martin Niemöller mithilfe interdisziplinärer und multinationaler Perspektiven unter dem Eindruck der „neuen Niemöller-Debatte“. Diese dreht sich, befeuert durch die in den letzten Jahren erschienenen Biographien (Heymel 2017, Hockenos 2018, Ziemann 2019, Rognon 2020), um eine kritischere Wahrnehmung Niemöllers und hat bereits eine breite mediale Öffentlichkeit eingenommen. Neben den Protagonist:innen der Debatte konnten nahezu alle etablierten Forscher:innen zu Niemöller und auch innovative Forschungsprojekte von jungen Wissenschaftler:innen versammelt werden. Die internationale Konferenz wurde in einem Hybrid-Format veranstaltet, und die Livestreams sind über den YouTube-Channel der Evangelischen Akademie Frankfurt dauerhaft verfügbar.

In ihren Grußworten machten Friederike von Bünau (EKHN-Stiftung), Ulrich Oelschläger (Kirchensynonde der EKHN) und Propst i.R. Michael Karg (Martin-Niemöller-Stiftung) die gegenwärtige Bedeutung der ambivalenten und keinesfalls heroisierten Person Niemöllers über die historische und theologische Forschung hinaus deutlich.

Die vielfältigen Vorträge der Tagung waren in fünf Themenblöcke gegliedert. Block I zu Streitfragen der Niemöller-Forschung eröffnete BENJAMIN ZIEMANN (Sheffield) mit einem Beitrag zu Niemöllers Antisemitismus. Ziemann sieht Niemöller als Vertreter eines völkischen Rassenantisemitismus und „Faschist der ersten Stunde“ und wirft ihm vor, dies später immer wieder mit einer „frommen Legende“ beschönigt zu haben. Erst später habe er den rassischen Antisemitismus abgelegt und in theologischen Kategorien über das Judentum reflektiert – jedoch weiter höchst negativ. Ab 1932 habe Niemöller immer noch an gesellschaftlich-kulturellen antisemitischen Ressentiments partizipiert und die Kirche als nicht zuständig für ein Eintreten für die Rechte jüdischer Mitbürger:innen gesehen. Für die Zeit nach 1945 dürfe man nicht „der Logik des Persilscheins“ folgen, also Niemöller aufgrund von Freundschaften zu jüdischen Menschen vom Antisemitismus freisprechen, sondern müsse aufgrund seiner öffentlichen Äußerungen eine Persistenz seiner antisemitischen Ressentiments feststellen. Ein Wandel und eine Revision seiner Ansichten sei erst Ende der 1940er- oder Anfang der 1950er-Jahre zu beobachten. Die Untersuchung von Niemöllers Äußerungen zum Staat Israel sei ein Forschungsdesiderat.

VICTORIA BARNETT (Washington D.C.) beantwortete die Frage, ob Niemöller ein Mann des Widerstands sei, mit einem „cautious no“, um dann deutlich zu machen, wie komplex „Widerstand“ gegen das NS-Regime zu beurteilen sei und wie sich die Wahrnehmung von Widerstand auch von früher Hagiographie zu einer zunehmend kritischeren Historiographie entwickelt habe. Niemöller sei zwar zunächst ein Symbol des Widerstands geworden, sein Widerstand war aber immer von einer nationalistischen Haltung, die er mit den Nationalsozialisten geteilt habe, getragen und sei auf die Autonomie der Kirche beschränkt gewesen. Für Niemöllers Handeln und für seine Wahrnehmung als Widerstandskämpfer sei sicher auch seine Persönlichkeit als „natural fighter“ verantwortlich, wie auch seine Wahrnehmung als streitbare Persönlichkeit nach 1945.

Beschlossen wurde der Block von MALTE DÜCKER (Frankfurt am Main), der in kulturwissenschaftlicher Perspektive die Rezeption Niemöllers in Deutschland als „Erinnerungsfigur“ und die damit verbundenen Geschichtsbilder skizzierte. Dabei wurde Niemöller im Stil Martin Luthers als furchtlos opponierend, im Kontext von Ursprünglichkeitsnarrativen oder als ambivalenter Held ins Bild gesetzt.

Block II beschäftigte sich mit der Rezeption Niemöllers in verschiedenen europäischen Ländern. FRÉDÉRIC ROGNON (Straßburg) beleuchtete die geringe Bekanntheit Niemöllers in Frankreich, die ihre Ursachen im französischen Laizismus, der zu einem distanzierteren Verhältnis zu religiösen Persönlichkeiten führe, und der stärkeren Rezeption Dietrich Bonhoeffers zu haben scheine. Rognons eigene Niemöller-Biographie trägt maßgeblich zu einer Auseinandersetzung mit Niemöller in Frankreich bei.

STEPHEN PLANT (Cambridge) beleuchtete die Beziehung von Niemöller und Karl Barth vor allem anhand ihres Briefwechsels. Es wurde deutlich, dass ihr Verhältnis freundschaftlicher geprägt war als dies bisher angenommen wurde und dass die beiden viele Ansichten teilten, etwa die Notwendigkeit des vereinten Auftretens von Lutheranern, Reformierten und Unierten im Kirchenkampf. Oft gestalteten sie den Weg der Evangelischen Kirche gemeinsam mit, auch wenn Barth Niemöller auch kritisch sehen konnte, wie beispielsweise dessen Meldung zum Dienst in der Kriegsmarine im Jahr 1939.

Dass Niemöller in den Niederlanden zu den bekanntesten deutschen Personen überhaupt gehöre und als Symbolfigur für den kirchlichen Widerstand gelte, wurde von WILKEN VEEN (Amsterdam) eindrücklich dargestellt. Bei zahlreichen Besuchen nach 1945 sei Niemöller in den Niederlanden gefeiert worden, habe missionierend gepredigt und politische Reden gehalten.

PETER MORÉE (Prag) analysierte Niemöllers Verbindungen in die damalige Tschechoslowakei anhand seiner Freundschaft mit Josef L. Hromádka. So wurden auch Niemöllers Beziehungen in ein vom Sozialismus geprägtes Land deutlich, in dem die bedrängte Kirche allein über Hromádka ökumenische Kontakte habe knüpfen können. Die politische Verzwecklichung ihrer Freundschaft anlässlich Niemöllers Prag-Reise 1954 war dabei sowohl Niemöller als auch Hromádka bewusst. Von Bedeutung sei Niemöller auch für die Legitimierung der Christlichen Friedenskonferenz gewesen, welche die Alternative zu dem vom Ökumenischen Rat der Kirchen nicht anerkannten Weltfriedensrats sei.

Block III nahm die in der Forschung bisher wenig berücksichtigten Fragen nach dem Prediger und Theologen Niemöller in den Blick. ALF CHRISTOPHERSEN (Wuppertal) gab einen Einblick in Niemöllers Gedankenwelt zur Kirche anhand seiner in der Haft verfassten Schrift „Der Weg der Kirche“, in der Niemöller mit einem von ihm idealisierten Katholizismus mit lehramtlicher Autorität sympathisiert und sogar mit dem Gedanken an eine Konversion spielt.

Ein Triptychon der theologischen Arbeit Niemöllers bot MICHAEL HEYMEL (Limburg), der ihn als Prediger, Theologe und Ökumeniker portraitierte. Niemöllers Predigtätigkeit sei stets christozentrisch und an der menschlichen Lebenswirklichkeit orientiert gewesen; geprägt vom preußischen Pietismus, habe er kritisch einen Gemeindebezug der akademischen Theologie eingefordert und im ökumenischen Kontext die dortige westliche Dominanz angeprangert.

LUKAS BORMANN (Marburg) stellte Niemöllers Schrifthermeneutik mit einem Schwerpunkt auf den Dahlemer Predigten dar. Er verdeutlichte, dass Niemöller Sinnbild und Projektionsfläche der religiösen Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an die Auslegung der Schrift als transzendierendes religiöses Erlebnis geworden sei. Vor dem Hintergrund der Philosophie von Jürgen Habermas könne man sagen, dass Niemöllers Predigten das „religiöse Proprium“ des Protestantismus inszenierten und so zur Erzeugung und Stabilisierung gesellschaftlicher Solidarität beigetragen hätten. Ferner habe Niemöller in seinen Predigten Bibeltext und gesellschaftliche Gegenwart „überblendet“ und so eine Stärkung des Individuums mit seinen Handlungsmöglichkeiten und eine Solidarität jenseits des Nationalsozialismus erreicht.

MATTHIAS EHMANN (Ewersbach) bot eine Relecture eines in der Forschung bisher völlig unberücksichtigten theologischen Beitrags Niemöllers von der Weltkonferenz des Ökumenischen Rats der Kirchen 1961. Niemöller war seiner Zeit hier voraus, da er schon damals zur Solidarität mit nichtchristlichen Migrant:innen aufrief, die Mission zu Menschen in Not über Strukturen stellte und bereits von Migrant:innen gegründete Kirchen antizipierte.

Block IV widmete sich Niemöllers Wirken in kirchlichen Kontexten in der EKHN und im Pfarrernotbund. THOMAS MARTIN SCHNEIDER (Koblenz-Landau) präsentierte die Barmer Theologische Erklärung (BTE) als „kirchenpolitisches und theologisches Konsenspapier“ der Bekennenden Kirche, das in den Flügeln verschiedentlich rezipiert worden sei. Schneider zeigte, dass Niemöllers Mitwirken an der BTE sich vor allem auf Organisatorisches beschränkte und er kein Verständnis für die Anliegen der Lutheraner gehabt habe. Für die Theologie Niemöllers sei keinesfalls die gesamte BTE, sondern allein der strenge Christozentrismus der ersten beiden Thesen sowie „das Erlebnis Barmen“ (Heymel) entscheidend, teilweise habe Niemöller auch ordnungstheologische und mit der BTE unvereinbare Meinungen vertreten.

Mit der Methodologie der Wahrnehmungsgeschichte ging GISA BAUER (Karlsruhe) der Frage nach, wie Niemöller in der EKHN wahrgenommen wurde. Die EKHN verstehe sich selbst als politische Kirche und nehme dazu gerne Bezug auf das Symbol Martin Niemöller. In einer „Wechselwirkung“ habe Niemöller zunächst die bereits politisch ausgerichtete Kirche weiter politisiert, die ihn dann wiederum als Symbolfigur ihrer politischen Gesinnung aufgebaut habe. Eine Unterscheidung der historischen Person und der symbolischen Figur sei mit der Zeit unmöglich geworden.

JOLANDA GRÄSSEL-FARNBAUER (Marburg) untersuchte die Rolle Niemöllers in der Diskussion über Frauen im Pfarramt. Niemöller sei oftmals uneindeutig und ambivalent gewesen; so habe er sowohl von schöpfungsbedingten biologischen Unterschieden der Geschlechter her argumentiert als auch für das Pfarrerinnengesetz hin zu einer Gleichstellung geworben oder 1969 sogar eine erst 35-jährige Pfarrerin als Kirchenpräsidentin der EKHN vorgeschlagen.

Der V. Block hatte das Erbe der Bekennenden Kirche (BK) zum Thema, und so widmeten sich zwei Beiträge dem Verhältnis Niemöllers zu zwei Mitstreitern aus der Bekennenden Kirche. GERARD C. DEN HERTOG (Apeldoorn) verglich Niemöller mit dem Nationalprotestanten Hans Joachim Iwand in Bezug auf die NS-Zeit und die unmittelbare Nachkriegszeit, wobei Iwand aufgrund seiner subversiven Tätigkeiten zugunsten niederländischer Zwangsarbeiter und Juden immer etwas strahlender wirkte.

HANNAH M. KRESS (Münster) beleuchtete das Verhältnis von Niemöller und Hans Asmussen anhand ihres Briefwechsels. Sie schilderte sowohl ihre Zusammenarbeit in der NS-Zeit als auch ihren „multifaktoriellen Entfremdungsprozess“ seit Ende des Jahres 1945. Dieser habe sich vermutlich an der Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit der Frage nach dem Amt und nach der Rolle der Kirche im politischen Diskurs entzündet.

ARNO HELWIG (Berlin), der Leiter des Martin-Niemöller-Hauses in Berlin-Dahlem, berichtete über die Geschichte des Hauses und seine verschiedenen Nutzungen sowie über die Erinnerungsarbeit, die dort seit 2018 mit einer Dauerausstellung zu den bleibend aktuellen Themen Juden, Menschenrechte, gesellschaftliche Verantwortung und Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet wird.

HARRY OELKE (München) sprach über das Erbe der BK für den heutigen Protestantismus und machte vier Phasen der Erinnerungskultur aus. Die erste Phase dauere bis in die 1970er-Jahre und sei durch Zeitzeugen und somit durch ein kommunikatives Gedächtnis und fehlende Selbstkritik geprägt. Die zweite Phase (bis 1989) sei durch eine Politisierung, Polarisierung und Pluralisierung christlicher Wertvorstellungen geprägt. Die dritte Phase (bis 2005), in der die BK zu einem Teil protestantischer Identität kanonisiert worden sei, zeige auch kirchenhistorische Neubewertungsdiskussionen. Die gegenwärtige vierte Phase sei am stärksten durch ein Ende der „Erregungskultur“ und eine Versachlichung der historischen Wissenschaftskultur geprägt.

In der Abschlussdiskussion wurde die gegenwärtige Enthistorisierung der Landeskirchen bemängelt, die ihre eigene Vergangenheit manches Mal zu einfach auf die jeweilige Gegenwart anwenden würden. Sowohl allgemein als auch in Bezug auf Niemöller bedürfe es weiterer komplexerer Forschung in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Historiker:innen und Theolog:innen, die ihre jeweiligen spezifischen und unverzichtbaren Kompetenzen einbringen. Hier gelte es, weitere Quellen zu erschließen und in Bezug auf Themen wie Antisemitismus und Widerstand genauer zu analysieren. Insgesamt könne und solle man die herausragende Bedeutung Niemöllers für die internationalen Kirchen und Gesellschaften nicht kleinreden und die Ambivalenzen seiner Person weiter herausarbeiten.

Ein Tagungsband ist in Arbeit und wird voraussichtlich im Frühjahr 2022 erscheinen.

Konferenzübersicht:

I. Streitfragen der Interpretation: Antisemitismus und Widerstand

Benjamin Ziemann (Sheffield): Martin Niemöllers Antisemitismus 1918–1967. Versuch einer Neubewertung

Victoria Barnett (USA): War Martin Niemöller ein Mann des Widerstands gegen das NS- Regime?

Malte Dücker (Frankfurt am Main): Zwischen protestantischer Tradition und prophetischer Ursprünglichkeit. Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen um Martin Niemöller im deutschen Protestantismus seit 1945

II. Niemöller-Rezeption im europäischen Protestantismus

Frédéric Rognon (Straßburg): Niemöller et la France: les paradoxes d'une réception

Stephen Plant (Cambridge): Niemoeller and Barth's transition from awkward and accidental allies in the 30s to respectful friends after 1945

Wilken Veen (Amsterdam): Die Rezeption Martin Niemöllers in den Niederlanden nach dem Zweiten Weltkrieg

Peter Morée (Prag): Martin Niemöller im tschechischen evangelischen Kontext und seine Beziehung zu Josef L. Hromádka

III. Niemöller als Prediger und Theologe

Alf Christophersen (Wuppertal): Niemöller zwischen Luthertum und Katholizismus

Michael Heymel (Limburg): Niemöller als Prediger, Theologe und Ökumeniker

Lukas Bormann (Marburg): Niemöller und die Bibel. Die Schrifthermeneutik der Dahlemer Predigten

Matthias Ehmann (Ewersbach): „For the migrant takes the place of Christ himself”. Martin Niemöllers früher Ansatz zu einer Theologie der Migration des ÖRK im Horizont des Endes der Kolonialherrschaft

IV. Niemöller in kirchlichen Kontexten

Thomas Martin Schneider (Koblenz-Landau): Die „Magna Charta“ der BK – Martin Niemöller und die Barmer Theologische Erklärung

Gisa Bauer (Karlsruhe): Martin Niemöller und die EKHN

Jolanda Gräßel-Farnbauer (Marburg): Martin Niemöller und die Diskussion um Frauen im Pfarramt

V. Barmen und das Erbe der Bekennenden Kirche

Gerard C. den Hertog (Apeldoorn): Martin Niemöller und Hans Joachim Iwand: Ihr gemeinsamer Weg vom Nationalprotestantismus zur ökumenischen Friedensbewegung

Hannah M. Kreß (Münster): Martin Niemöller und Hans Asmussen

Arno Helwig (Berlin): Die Rezeption Niemöllers am historischen Ort – Erinnerungsarbeit am Martin-Niemöller-Haus Berlin-Dahlem

Harry Oelke (München): Der heutige Protestantismus und das Erbe der Bekennenden Kirche

Diskussion der Tagungsergebnisse


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